Stuttgart 21: 10. Jahrestag Schwarzer Donnerstag

Am 30.09.2020 jĂ€hrt sich zum zehnten Mal der Schwarze Donnerstag. Am 10.09.2010 rĂ€umte ein großes Polizeiaufgebot den Mittleren Schlossgarten in Stuttgart. Es ging um die RĂ€umung des Parks zu Beginn der Bauarbeiten zu Stuttgart 21. Tausende Menschen, die ĂŒber den sogenannten ParkschĂŒtzer- Alarm informiert wurden, strömten in den Park, um das FĂ€llen der BĂ€ume im Mittleren Schlossgarten zu verhindern. Die Polizei ging mit brutaler HĂ€rte, insbesondere mit Schlagstöcken, reichlich Pfefferspray und schließlich sogar mit vier Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor.

Dietrich Wagner verliert Augenlicht

Dietrich Wagner, der von der Presse spĂ€ter „Ikone des Widerstandes“ genannt werden sollte, verlor durch den mit 12 bar abgesetzten Strahl des Wasserwerfers Nummer 1 um 13:47 Uhr nahezu vollstĂ€ndig sein Augenlicht. WĂ€hrend der RĂ€umung habe ich mit dem damaligen Pressesprecher der ParkschĂŒtzer telefoniert und er beschrieb mir die Szenerie live wie folgt: „Hier ist Krieg“.

Klage vor dem Verwaltungsgericht

FĂŒr Dietrich Wagner und drei weiteren durch die Wasserwerfer Schwerverletzte erhoben wir Klage vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart, um feststellen zu lassen, dass der Polizeieinsatz rechtswidrig war. Das entsprechende Urteil, dass an Deutlichkeit kaum zu ĂŒberbieten ist, hielt die Demonstration fĂŒr rechtmĂ€ĂŸig und den Polizeieinsatz fĂŒr rechtswidrig. Das Urteil wurde rechtskrĂ€ftig.

Viele Verfahren gegen ParkschĂŒtzer

Allerdings gingen die Demonstrationen weiter. In der Folgezeit hat meine Kanzlei –wie auch schon zuvor- Dutzende von Demonstranten verteidigt. Die Staatsanwaltschaft hat jeden kleinen Verstoß und auch solche, die gar nicht als Verstoß zu werten sind, gleich 2 bis 3 Stufen höher gehĂ€ngt. So hatten wir Strafverteidigungen wegen Verdachts der Gefangenbefreiung, der Freiheitsberaubung, der versuchten bzw. vollendeten gefĂ€hrlichen Körperverletzung und viele Delikte mehr.

Polizisten als TĂ€ter: Teilweise Freiheitsstrafen

Nur durch unsere Anstrengungen ist es gelungen, auch Polizeibeamte vor Gericht zu bringen. Teile der Wasserwerfer-Besatzung wurden zu Freiheitsstrafen auf BewĂ€hrung wegen Körperverletzung im Amt verurteilt. Die zwei Einsatzabschnittsleiter, die unmittelbar dem Einsatzleiter unterstellt waren, wurden durch unser DrĂ€ngen angeklagt: Es ergab sich der sogenannte Wasserwerfer-Prozess vor der großen Strafkammer des Landgerichts Stuttgart, der sich ĂŒber Monate hinweg zog. Obwohl noch gar nicht alle Zeugen gehört wurden und obwohl der seinerzeitige Oberstaatsanwalt Bernhard HĂ€ussler die beiden Angeklagten Einsatzabschnittsleiter schwer belastet hat, wurde das Verfahren gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt.

Damaliger PolizeiprÀsident als Einsatzleiter wegen fahrlÀssiger Körperverletzung im Amt rechtskrÀftig schuldig.

Allerdings konnten wir erreichen, dass auch gegen den damaligen Einsatzleiter, PolizeiprĂ€sident (mittlerweile a.D.) Stumpf, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Dieses mĂŒndete schlussendlich in einer Verurteilung wegen fahrlĂ€ssiger Körperverletzung im Amt per Strafbefehl.

Fake-News ĂŒber Wagner seitens des Staates

Dietrich Wagner wurde vorgeworfen, er habe Pflastersteine geworfen. Diese Behauptung, die die Staatsanwaltschaft bis heute nicht belegen konnte, wurde von den Ermittlungsbehörden bis zum Schluss aufrechterhalten. Gegen ihn wurde ermittelt wegen versuchter gefĂ€hrlicher Körperverletzung, SachbeschĂ€digung u.a.. In Wahrheit hatte Dietrich Wagner Kastanien geworfen, die durch den Wasserwerfer-Einsatz von den BĂ€umen auf die Demonstranten nieder fielen. Es wurde dann ermittelt ob er den Wasserwerfer beschĂ€digt habe. Eigens hierfĂŒr sind zwei Kripobeamte nach Biberach an die Riss gefahren (wo die BW-Wasserwerfer stationiert waren), um zu ĂŒberprĂŒfen, ob an einem der Wasserwerfer ein Kastanieneinschlag erkennbar ist und Dietrich Wagner zugeordnet werden kann. War es natĂŒrlich nicht.

Kriminalisierung der ParkschĂŒtzer; zynische Einstellung der Verfahren gegen Wagner

Wie auch viele andere Demonstranten, wurde Dietrich Wagner kriminalisiert. Dies ist deshalb so bedenklich, weil rechtskrĂ€ftig festgestellt wurde, dass der Polizeieinsatz rechtswidrig war und nicht die Demonstration. Die Strafverfahren gegen Dietrich Wagner wurden schlussendlich eingestellt, aber nicht nach § 170 Abs.2 StPO ( weil keine Straftat vorhanden bzw. nachweisbar), sondern man sah von Strafe ab, weil Dietrich Wagner ja so schwer verletzt war. Dies war er allerdings schon bevor das Ermittlungsverfahren ĂŒberhaupt eingeleitet wurde.

Viele Menschen noch traumatisiert

Viele Menschen in Stuttgart sind noch heute traumatisiert. Das gilt insbesondere auch fĂŒr die vielen Jugendlichen, die sich den Protesten angeschlossen hatten. Der Polizeieinsatz wurde durchgefĂŒhrt wohl auf Geheiß der Deutschen Bahn, obwohl insgesamt vier Demonstrationen gegen Stuttgart 21 an diesem Tag angemeldet waren und im Schlossgarten erwartet wurden.

Einfluss der Politik auf die Polizeitaktik

Auch wenn die Vermutung sehr nahe lag und liegt, dass der damalige MinisterprĂ€sident Stefan Mappus das harte Vorgehen angeordnet hatte, ließ sich dies nicht zweifelsfrei beweisen. Bekannt ist durch die Ermittlungen nur geworden, dass die endgĂŒltige Entscheidung zur DurchfĂŒhrung dieses Polizeieinsatzes einen Tag zuvor, nĂ€mlich am 29.09.2010 im Staatsministerium fiel und zwar in Anwesenheit des damaligen MinisterprĂ€sidenten Stefan Mappus und in Abwesenheit des damaligen Innenministers Rech. Ebenfalls zugegen war der spĂ€tere Einsatzleiter, PolizeiprĂ€sident a.D. Stumpf, der damalige LandespolizeiprĂ€sident Harmann und Verkehrsministerin Gönner.

Noch nicht alle Verfahren abgeschlossen

Auch wenn die straf- und zivilrechtlichen Verfahren nunmehr weitestgehend abgeschlossen sind, gibt es noch Rechtstreitereien im Zusammenhang mit Stuttgart 21 und den BaumfĂ€llungen. Beispielsweiße lĂ€uft noch ein Verfahren nach dem Umweltinformationsgesetz, bei dem Unterlagen zum Schwarzen Donnerstag vom Staatsministerium heraus verlangt werden. Dieses Verfahren ist mittlerweile in Teilen vor dem EUGH und eine Entscheidung wird in BĂ€lde erwartet. Einen anderen Teil haben wir bereits vor dem BVerwG in Leipzig gewonnen.

Welche Alternative hÀtte die Polizei gehabt?

Nach meinem DafĂŒrhalten hĂ€tte der Polizeieinsatz unter anderen Mitteln und zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden mĂŒssen, insbesondere hĂ€tte aber der brutale Polizeieinsatz gestoppt werden mĂŒssen als klar war, dass es viele Schwerverletzte gab. Dieser Polizeieinsatz war absolut unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸig.

Hoffnung, dass der Staat lernt?

Allerdings wird die Hoffnung dadurch getrĂŒbt, dass in anderen FĂ€llen insbesondere im Zusammenhang mit Polizeigewalt, die Taktik des Verschleierns und der Verbreitungen von Unwahrheiten fortbesteht. In einem meiner FĂ€lle, in dem eine junge Lehrerin 22 Stunden ohne Grund und unter widrigen Bedingungen eingesperrt wurde, offenbarte sich das gleiche Verhalten der Ermittlungsbehörden und der Politik wie bei Stuttgart 21.

Es bleibt zu hoffen, dass sich ein solcher Vorgang in der Geschichte des Landes nicht mehr wiederholt. Es bleibt ferner zu hoffen, dass Politiker und Behörden ihre Lehren daraus gezogen haben.

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Kampf gegen Einsatz von Wasserwerfern in Hongkong

Wasserwerfer können gefĂ€hrliche Geschosse sein. Das wissen wir spĂ€testens seit dem Vorfall im Stuttgarter Schlossgarten, bei dem Polizisten damit gegen Demonstranten vorgingen und z. T. schwere Verletzungen verursachten (Foto: Joachim E. Röttgers). Der Tag ging als “Schwarzer Donnerstag” in die Geschichte der Stadt ein und hat auch im Ausland Aufsehen erregt. Nun suchen BĂŒrgerrechtler aus Hongkong unsere Hilfe. 

Die Situation in Hongkong intensiviert sich zusehends. Demonstranten werden verhaftet, Versammlungen verboten und China baut eine Drohkulisse auf. Jetzt wurden bereits zweimal Wasserwerfer in Hongkong gegen die Demonstranten eingesetzt. Ein hoch gefĂ€hrliches Unterfangen. Ein Journalist aus Hongkong bat mich um UnterstĂŒtzung. Weiterlesen

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KĂŒkenschreddern

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist chicks-349035_1920-1024x683.jpgDas Bundesverwaltungsgericht hat heute ein unglaubliches, ja beschÀmendes Urteil gefÀllt. Dazu der satirische Text von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht Stuttgart a.D.:

Liebe Freundinnen und Freunde,

bekanntlich hat heute das Bundesverwaltungsgericht das Schreddern mĂ€nnlicher KĂŒken fĂŒr auch kĂŒnftig zulĂ€ssig erklĂ€rt. Noch nicht bekannt ist offenbar, dass der Hohe Senat inzwischen fĂŒr das Töten alter und kranker Menschen in gleicher Weise entschieden hat.
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LĂŒcken im Rechtssystem: Wenn Polizeigewalt nicht bestraft wird

Eine gerade veröffentlichte Studie der RuhruniversitĂ€t Bochum unter der Leitung von Prof. Dr. Tobias Singelnstein zeigt: Wenn Polizisten gewalttĂ€tig werden, so wird das nur selten strafrechtlich verfolgt und noch seltener geahndet. Polizisten verpfeiffen einander nicht und der Justiz mangelt es an der nötigen ObjektivitĂ€t – ein struktureller Fehler.

Das Polit-Magazin Report Mainz berichtete gestern eindrĂŒcklich darĂŒber: PrĂŒgelnde Polizisten – Versagt die Justiz?

Auch ich habe im Wasserwerfer-Prozess im Zusammenhang mit dem Projekt Stuttgart 21 genau diese Erfahrung gemacht. Mein Mandant Dietrich Wagner wurde von einem Wasserwerfer blind geschossen, obwohl er lediglich ganz friedlich gegen eine nicht genehmigte BaumfÀllung im Stuttgarter Schlossgarten demonstrierte. Letztlich wurden nur zwei Polizisten, die letzten Glieder in der Befehlskette, mit vergleichsweise geringen Strafen belegt. Die eigentlichen Verantwortlichen kamen davon.

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Die Polizei: Dein Freund oder Feind?

Eine junge Frau machte bislang nur positive Erfahrungen mit der Polizei. Das Àndert sich, als sie zu Unrecht einer Straftat verdÀchtigt und festgenommen wird. Ein Fall, der Wellen schlÀgt. 

 

 

Mit einer Entschuldigung fĂŒr das Fehlverhalten der Polizisten wĂ€re unsere Mandantin womöglich zufrieden gewesen. Schließlich wurde sie zu Unrecht verdĂ€chtigt, öffentlich in Handschellen abgefĂŒhrt und unter unwĂŒrdigen UmstĂ€nden unnötig lang in Gewahrsam genommen. Die betroffenen Beamten rĂŒhren sich jedoch auch ĂŒber zwei Jahre spĂ€ter nicht. Jetzt beschĂ€ftigt der Fall den Petitionsausschuss des Landtags und das Gericht.

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